„Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ – Eine Lesung am Gymnasium Rahlstedt

Nur noch wenige Menschen sind heutzutage in der Lage, von ihrem Alltag, von der Angst, dem Schrecken und der Grausamkeit im Dritten Reich zu berichten.

Nicht vielen ist es gelungen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse, welche gerade im heutigen Zeitalter hohe Bedeutung erlangen, detailliert festzuhalten, um dieses schwere Erbe an die kommenden Generationen weiter zu geben.

Victor Klemperer, ehemaliger Professor für Romanistik und vom Judentum konvertierter Protestant, ist dies gelungen. In seinen Tagebüchern schreibt der Holocaust-Überlebende seine Geschichte nieder. Klemperer wurde von seinem Beruf ausgeschlossen, jeglicher Rechte beraubt, musste mit ansehen, wie seine Frau geschändet und die Freunde um ihn herum immer weniger wurden, wie ihm bekannte Juden aus Verzweiflung Selbstmord begingen und ein vorheriges Leben in Freiheit einer Existenz in dauerhafter Angst und Abschottung wich.

Renatus Deckert, welcher wie Klemperer selbst in Dresden lebte, berichtet und liest heute aus den Tagebüchern des Victor Klemperer und lässt so die in der Schule gelehrten Fakten über den Holocaust anhand des Schicksals eines Mannes lebendig werden.

Am 18.12.2019 besuchte Herr Deckert das Gymnasium Rahlstedt und hielt dort eine Lesung aus Victor Klemperers Werk „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.

Nachdem unser Schulleiter Herr Frankenfeld einleitende Worte gesprochen und Herrn Deckert herzlich willkommen geheißen hatte, sprach der Organisator der Lesung, Herr Kubisch, noch über den Anlass derselben sowie über die Aktualität der Thematik.

Herr Deckert ergriff das Wort, bedankte sich und begrüßte alle Anwesenden.

Um sein besonderes Interesse an dem Fall Viktor Klemperer zu erklären, begann er kurz von seiner Heimat Dresden und dem damit einhergehenden, stark ausgeprägten historischen Interesse zu berichten. Die vielen Ruinen hätten ihn immer wieder zu einer Spurensuche angeregt, und nach weiterer Beschäftigung mit der Geschichte in der Schule sei ihm bewusst geworden, dass ihn besonders die Perspektive der Opfer interessiere.

Die Tagebücher Viktor Klemperers würden dabei eine umfangreiche Ansammlung von Informationen bezüglich der NS-Zeit bilden und das Einzelschicksal eines Holocaust-Opfers detailliert veranschaulichen.

Viktor Klemperer war geborener Jude, konvertierte aber im Laufe seines Lebens zum Christentum. Des Weiteren diente er bereits im Ersten Weltkrieg und war mit einer, laut der ideologischen Terminologie der Nationalsozialisten, „arischen“ Frau verheiratet.

Die Ausbildung des nationalsozialistischen Regimes brachte Klemperer dazu, ein umfangreiches, ca. 1500 Seiten langes Tagebuch zu schreiben.

Darin beschreibt er den täglichen Terror im Dritten Reich und notiert auch Gerüchte und politische Witze. Die Entdeckung dieser Notizen hätte zu jedem Zeitpunkt sein Todesurteil bedeutet.

Dieses Risiko nahm er jedoch willentlich in Kauf, da er sich selbst als Chronisten dieser Zeit sah.

Seine Frau, Eva Klemperer, hielt dabei immer zu ihm, zog mit ihm ins jüdische Ghetto und wich nicht von seiner Seite. So begab sie sich zwar selbst in Gefahr, doch stellte sie auch Mut, Tapferkeit und Liebe unter Beweis.

Die zeitlichen Abschnitte des Tagebuchs erstrecken sich dabei über die Jahre 1933-45 und verdeutlichten wichtige Informationen, wie beispielsweise die Thematik der Konzentrationslager, die durchaus in der Bevölkerung bekannt gewesen war.

Es ist ein Beweis dafür, dass selbst ein isolierter, von der Gesellschaft abgeschnittener Mensch von den Machenschaften und Verbrechen des NS-Regimes gewusst hat und stellt somit das Gegenargument zu der allgemein verwendeten Aussage „Man hätte nichts von den Deportationen etc. gewusst“.

Herr Deckert leitet das Publikum durch die verschiedenen Etappen dieser zwölf Jahre aus Klemperers Perspektive: die Enteignung jeglichen Besitzes, das Einkaufen als jüdische Person, ohne ein Recht auf Schokolade oder sonstige „gute Sachen“, die ständige Angst vor Besuchen von der Gestapo und den Bombenangriff auf Dresden.

Die Tagebücher sind dabei als wertvolle Quelle zu betrachten, in welchen der Wandel und die Radikalisierung in den einzelnen Jahren des NS Regimes klar abgebildet wird.

Am Ende der Lesung angelangt war es an der Schülerschaft, die sich im Laufe dieser Veranstaltung angesammelten Fragen an Herrn Deckert zu stellen. 

Zuvor erfolgte noch eine kurze Pause, sodass es allen Anwesenden möglich war, das soeben Gehörte zu verarbeiten und etwas „sacken“ zu lassen.

In der anschließenden Fragerunde beantwortete Herr Deckert zunächst allgemeine Fragen. „Was motivierte Sie dazu, sich mit Herrn Klemperer zu beschäftigen?“ kam als erste Frage aus dem Publikum.

Herr Deckert antwortete, dass es besonders Dresden, seine Heimatstadt war, die ihn dazu motivierte und anregte, sich mit Herrn Klemperer zu beschäftigen. Er als Dresdner könne so den Alltag Klemperers besonders gut nachempfinden, kenne die Orte, an denen er sich aufgehalten hatte. So wüsste er, dass ein wichtiges Stück der Dresdner Geschichte und so auch der deutschen Geschichte nicht verloren gehen wird.

Seit ca. 20 Jahren beschäftige er sich schon mit Victor Klemperer und man lerne immer wieder neues dazu.

Auf die Frage, warum Herr Deckert gerade an die Schulen geht, um Vorlesungen zu halten, antwortete er, dass die Zeitzeugen langsam „aussterben“.

Die nachfolgenden Generationen hätten bald nicht mehr die Möglichkeit, direkte Erfahrungsberichte von Überlebenden zu hören und nachzuvollziehen. Es müsse also ein neues Format geschaffen werden, welches er hier mit seinen Vorlesungen aus dem Tagebuch versuchen würde, zu etablieren.

Gegen Ende der Fragerunde kam das Plenum auf das Thema „Rechtsradikalismus heute“ zu sprechen. Wie kann man da als Einzelperson vorbeugen? Was tun?

„Bildung“ ist die Antwort von Herrn Deckert.

Sie sei das Einzige, was die Menschen zurück zur Vernunft bringen könne.

Man müsse sich selbst seinem Alltag bewusst werden – Was mache ich heute Nachmittag? Wie viele Freiheiten habe ich eigentlich? Und wie viele Freiheiten wurden den Juden damals genommen? Inwiefern wurden sie eben dieser Freiheiten, die wir als selbstverständlich betrachten, gnadenlos beraubt?

„Je mehr der Holocaust zurück liegt, desto mehr verdrängen ihn die Leute. Man fürchtet um seinen Wohlstand und sucht einen Sündenbock dafür.“ – Das dürfe nicht wieder geschehen.

 

Die Lesung von Herrn Deckert ist also ein Appell an die heutige Generation.

Werdet euch der jetzigen Situation bewusst. Tragt das Wissen über dieses dunkle Erbe der deutschen Geschichte an Folgegenerationen weiter und klärt sie auf.

Macht euch bewusst, wie viele Freiheiten wir heute haben, und dass es nicht sein darf, dass jemand diese Freiheiten aufgrund von Hautfarbe, Glauben oder Herkunft aufgeben muss.

 

Vielen Dank, Herr Deckert, für diese interessante und zum Nachdenken anregende Lesung! 

 

Bericht und Fotos von Lea Rürup und Ariane Plückhahn aus dem S4-Profilkurs Geschichte, Kulturerbe